Aktuell wird viel von „Fehlerkultur“ geschrieben. Der Otto-Chef feiert die Fuck-up Night ebenso wie viele Unternehmer. Fast überall hört man den Ruf nach mehr „Fehlertoleranz“ und fragt sich: Es läuft doch vieles schief – sollen wir alle noch mehr Fehler machen, oder als Kunden noch mehr Fehler ertragen? Soll ich mich damit abfinden, dass ständig Züge zu spät kommen oder mein Mitarbeiter schon wieder einen fatalen Buchhaltungsfehler gemacht hat, der mich tausende Euro kostet, nur weil er schlampig und nachlässig gearbeitet hat?
Für mich gibt es drei Aspekte, die im Zuge der Diskussion um „Fehlerkultur“ relevant sind:
1. Null-Toleranz-Bereiche. Wenn es sich um einfache Prozesse und Standardvorgänge oder um kritische Qualitätsthemen handelt, oder wenn es um Bereiche geht, in denen Fehler Menschenleben kosten können, ist Fehlertoleranz kein passendes Konzept. Im Gegenteil: Hier muss „Null-Fehlertoleranz“ gelten. Es ist klar, was „richtig“ und „falsch“ ist – Flugzeuge sollen auf keinen Fall abstürzen. Es birgt auch keinen Mehrwert, wenn in einer Standard-Buchhaltungssoftware Fehler auftauchen. Und gleichzeitig zeigt der aktuelle Fall Boeig 737 MAX überdeutlich auf, wie wichtig absolute Transparenz ist, wenn Fehler passieren, die eigentlich nicht passieren dürfen.
2. Anti-Perfektionismus. Dort, wo das Pareto-Prinzip anwendbar ist (die viel zitierte 80:20-Regel, die besagt, dass wir mit 20% Aufwand 80% Zielerreichung schaffen und die übrigen 20% Zielerreichung 80% Aufwand kosten), gilt es, nicht den gleichen Perfektionismus anzuwenden, wie zum Beispiel bei der Entwicklung von Software für Flugzeuge. Die Geschäftsführerin der deutschen Niederlassung eines holländischen Startups sagte mir: „Mein größtes Problem ist, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nicht trauen, Fehler zu machen, und viel Zeit in perfektionistische Lösungen investieren. Bei hohem 2- oder sogar 3-stelligem Umsatzwachstum pro Jahr haut das nicht hin. Wir müssen schneller werden und bereit sein, auch mal Fehler zu machen, um unsere Wachstumsziele zu erreichen.“
3. Innovation und neue Geschäftsmodelle. Wenn wir Neuland betreten, gibt es kein „richtig“ und „falsch“. Die „digitale Transformation“ ist für die meisten Unternehmen eine Reise ins Unbekannte. Der Begriff „Fehler“ ist in diesem Kontext problematisch, denn er setzt schon voraus, dass es eine „richtige Lösung“ gibt. Es geht nicht um „richtig“ oder „falsch“, sondern um ein Ausloten von Optionen und Möglichkeiten; darum, neue „emergente“ Ideen oder Lösungen aufzuspüren.
Die Fuck-up Nights machen Sinn, weil sie das Ziel haben, die Einstellung zu Fehlern zu verändern, Menschen die Angst davor zu nehmen, auch mal Dinge auszuprobieren und zu wissen: Wenn ich einen Fehler mache, dann „hänge ich nicht am Fliegenfänger“, wie es in einer Firma, in der ich mehrere Jahre tätig war, gerne hieß. Wenn ich als Chef will, dass Mitarbeiter zu mir kommen und offen Dinge kommunizieren, die schief gelaufen sind, dann darf ich sie nicht für ihre Fehler „runterputzen“, denn dann kommen sie kein zweites Mal. Wo Angst herrscht, transparent zu kommunizieren, wenn Dinge nicht so laufen wie geplant, wird Vertuschung betrieben, und es kommt zu Folgefehlern, die schlimmer sind als das, was ursprünglich „schief“ gelaufen ist.
Eine Vielzahl von neuen Produkten und Innovationen sind durch vermeintliche Fehler entstanden. Corn Flakes waren das Ergebnis eines Küchenunfalls, Post-Its gibt es weil ein Klebstoff bei 3M nicht so wirkte wie geplant. Daher ist der erste Schritt zu einer „Fehlerkultur“, sparsamer mit dem Begriff „Fehler“ umzugehen, insbesondere dann, wenn man sich in unbekanntem Gelände befindet.